Von Dehnung, Biegung und Entspannung in der Reitkunst

Bist du für oder gegen Vorwärts Abwärts?

Immer wieder begegnet mir dieses Thema in in der Reiterwelt. „Bist du dafür oder dagegen?“ scheint eine Art notwendige Entscheidung zu sein, ein Ausweis, um zu zeigen, zu welcher Seite von Pferdeausbildern und Reitern man gehört – zu den Guten oder den Schlechten (welche Seite welche ist, ist natürlich auch je nach Seite, auf der man steht, wieder unterschiedlich). Ich habe mir über das Thema schon oft den Kopf zerbrochen, stundenlange Gespräche geführt und tonnenweise Informationen gelesen. Und immer wieder frage ich mich: was ist es, das gerade dieses Thema so zentral sein lässt? Wieso scheiden sich daran die Geister so sehr? Und was ist denn nun eigentlich meine Haltung zum Thema Dehnung oder eben: Vorwärts Abwärts?

Die Diagnose zu Beginn der Einheit

Wenn ich ein Pferd arbeite, sei es mein eigenes oder das eines Schülers, schaue ich es mir am liebsten zuerst einmal auf dem Zirkel an. Ich versuche zu erkennen, was seine Themen sind. Dabei steht vor allem die Händigkeit im Zentrum. Jedes Pferd hat, wie auch wir Menschen, eine bevorzugte Seite. Auf welcher Schulter ist das Pferd schwer? Was macht die Hinterhand – möchte sie auf dem Zirkel eher hinausfallen oder hereinkommen? Welches Hinterbein trägt lieber? Schiebt sich das Pferd über die Schultern und das Buggelenk nach vorne? Ist es schwer auf der Hand oder über dem Zügel? Macht es sich sehr kurz und eng? Diese Diagnose mache ich jedes Mal, wenn ich an ein Pferd herantrete. Und damit arbeite ich dann, je nachdem was gerade an diesem Tag wichtig ist. Bei den meisten Pferden, die ich antreffe, ist die Devise zu Beginn erst einmal: Tempo herausnehmen, eine klare Spur reiten und an der korrekten Längsbiegung arbeiten. Diese sollte auf beiden Seiten gegeben sein, damit eine Geraderichtung erst möglich ist.

Die Längsbiegung als Grundlage für Geraderichtung

Muss jedes Pferd geradegerichtet sein? Nein – solange das Pferd in der freien Natur mehrheitlich geradeaus unterwegs ist, stört es sich an seiner eigenen Schiefe vermutlich herzlich wenig. Sobald ich es aber mit meinem Gewicht belaste und dazu bringe, auf einer Kreisbahn zu gehen, muss ich die Schiefe angehen, um Schäden vorzubeugen. Geraderichtung ist also ein Ziel, das mit dem von Natur aus schiefen Pferd erst erarbeitet werden muss. Dies geschieht über die Längsbiegung und das Balancieren der Pferde zwischen den Schultern durch Seitengänge. Dazu ist es tatsächlich manchmal nötig, dass ein Pferd den Hals etwas nach vorne dehnt, sich also willig in die Längsbiegung hineingibt und formbar wird. Das muss jedoch in einem ruhigen und kontrollierten Tempo passieren, damit das Pferd seine Balance findet, nicht nach vorne oder zur Seite drängt und beginnt, aufmerksam auf meinen Sitz zu hören. 

Mazda in der Traversale in einer schönen Längsbiegung (Foto: Tina Gysin)

In der Kraft: Vorwärts Abwärts bei den alten Meistern

Diese Gebrauchshaltung nennt Wolfgang Krischke so schön „in der Kraft sein“. Es ist eine individuelle Position für jedes Pferd, in der es sich vorne leicht macht, also ganz leise auftreten kann und immer nachgiebiger und leichter wird. Die Kopfhaltung ist, je nach Pferd und Ausbildungsstand, mal etwas höher oder etwas tiefer. Diese Haltung ist vermutlich auch das, was die alten Meister unter „vorwärts abwärts“ verstanden: ein Pferd, dass sich in der Längsbiegung aufspannt, mit gehobenem Brustkorb, aktiver Tragemuskulatur und in Balance zwischen den Zügeln. Und das, ohne den Hals zu verkürzen und sich in der Ganasche eng zu machen.

Dass ein Pferd eine sehr tiefe Kopfhaltung benötigt, um in der Kraft zu sein, habe ich noch nie gesehen. Die meisten Pferde werden bei tiefer Kopfhaltung eher schnell, lassen sich nicht mehr gut ansprechen und werden schwer auf der Vorhand, da sie im Widerristbereich absinken. Etwas, das man tatsächlich auch hören kann: Das Pferd tritt lauter auf. Mein Ziel in der Basisarbeit ist es also, das Pferd in eine Haltung zu bringen, in der es weich, ansprechbar und nachgiebig ist und sich zwischen meinen Hilfen in eine immer bessere Balance bringen lässt. Will ich eine Pause einlegen, mache ich das im Stehen und lasse die Zügel lang, so dass sich das Pferd strecken kann, wenn es möchte. Die Dehnungshaltung in der Reitweise, die ich verfolge, erfolgt also nicht über ein Verlängern des Halses nach vorne unten, sondern über die Längsbiegung.

Muskelspannung in der Versammlung

Geht es dann in Richtung der anspruchsvolleren Aufgaben, die mehr Versammlung erfordern, möchte ich von meinem Pferd eine schnelle Reaktion, eine gute Körperkontrolle und eine sofortige Ansprechbarkeit. Das ist in einer entspannten Gebrauchshaltung nicht sinnvoll; dafür muss sich das Pferd vorne im Brustkorb stark heben, die Gelenke in den Hanken müssen sich beugen, Energie speichern und schnell freigeben können. Die meisten Pferde heben in der natürlichen Imponierhaltung automatisch auch Kopf und Halsbasis an, sie spannen sich maximal an, um die ganze Muskelkraft zur Verfügung zu haben.

Diese Anspannung ist nichts schlechtes, sondern notwendig. Wenn der Ausbildungsstand des Pferdes es zulässt, wird aus Anspannung auch keine Verspannung resultieren, die anschliessend wieder gelockert werden müsste. Wenn das Pferd dann eine anspruchsvolle Übung gut ausgeführt hat, macht es auch wenig Sinn, mit langem Hals noch einige Runden als Entspannung zu traben. Schliesslich möchte ich das Pferd mit genau dem tollen Körpergefühl zurück in den Stall schicken, das es zuletzt hatte. Also steige ich nach einer guten Leistung meistens ab und beende die Lektion.

Ein vielfältiger Werkzeugkasten und kein „one size fits all“

Bin ich jetzt also für oder gegen Vorwärts Abwärts? Wenn ich eine Antwort darauf geben müsste (was ich meistens tunlichst vermeide) dann wäre sie wahrscheinlich:  Ich bin für gute, korrekte, individuelle Pferdeausbildung mit Berücksichtigung der Händigkeit. Ein/e gute/r Ausbilder*in muss in meinen Augen alles, was er tut, gut und schlüssig erklären können. Was ist der Nutzen für dieses Pferd in diesem Moment? Kurzfristig kann einem bestimmten Pferd ein fleissiges Vorwärts mit längerem Hals vielleicht einmal helfen. Es ist aber wichtig, dieses Werkzeug bewusst zu verwenden und genau zu wissen, wofür man es nutzt.

Jedes Pferd-Reiter-Paar funktioniert individuell, hat eigene Stärken und Herausforderungen. Die Reduzierung auf eine einzelne Übung scheint mir da einfach zu kurz gedacht. Deshalb habe ich mich auch für die Welt der Reitkunst entschieden: es gibt wenige vorgefertigten Lösungen, die für alle funktionieren sollen. Ich arbeite an einem Zielbild, wie ein Steinhauer, der an einem Steinblock meisselt, die fertige Skulptur stets vor Augen, aber dennoch in Abhängigkeit von der Struktur des jeweiligen Steines. Mein Werkzeugkasten dafür wächst ständig und es gibt noch so vieles zu lernen, zu hinterfragen und auch immer wieder über Bord zu werfen.

Yoga und Reitkunst – eine wertvolle Kombination

Im Yoga geht es nicht darum, deine Zehen berühren zu können. Es geht vielmehr darum, was du auf dem Weg nach unten lernst.

Jigar Gor

Zwei Geister müssen wollen, was zwei Körper können – diesen Satz sagte einst Bent Branderup, Grossmeister der akademischen Reitkunst. Einfacher gesagt als getan. Wer kennt es nicht: nach einem langen Tag im Büro fahren wir mit dem Auto zum Pferd und führen es auf den Reitplatz oder die Halle. Wir haben viel vor – schliesslich geht es hier um Reitkunst! Vor unserem inneren Auge sehen wir uns schon durch den Sand schweben. Das Pferd leicht an den Hilfen, wir müssen nur denken und unser Partner setzt bereits bereitwillig um.

Doch kaum sitzen wir im Sattel kommt die grosse Ernüchterung. Rechts herum ist der Zirkel einigermassen rund – links gleicht er eher einem Hühnerei. Das Pferd legt sich im Schulterherein auf den inneren Zügel, nimmt das Bein nicht an, die Pirouette will auch nicht klappen… Richtig angaloppieren ? Fehlanzeige. 

So viel zum entspannenden Abendprogramm. Kein Wunder; schliesslich sassen wir den lieben langen Tag in gebückter Haltung auf dem Stuhl und starrten in den Bildschirm. Dabei verkürzten wir mehrere Stunden jene Muskeln, die wir im Sattel locker und gedehnt brauchen, während die, die uns im Sattel stabilisieren sollen, Pause hatten.

Den Körper spüren und präzise einsetzen können durch Yoga

Das Ziel der Reitkunst ist eine sanfte Kommunikation mit feinen, fast unsichtbaren Hilfen. Das Pferd, welches eine Fliege auf seinem Fell spüren kann, spürt ebenso ein Muskelzucken unserer Wade, ein leichtes Annehmen des kleinen Fingers, eine Drehung der Schulter. Doch wenn wir eine solch feine Kommunikation anstreben, müssen wir auch dafür sorgen, dass unsere Körper dazu in der Lage sind. Für ein korrektes Travers die äussere Hüfte zurücknehmen, den äusseren Gesässknochen anheben, die äussere Schulter vorbringen – all das ist nur möglich, wenn wir unseren Körper sowohl gut wahrnehmen als auch präzise ansteuern können. Dafür ist für mich eine regelmässige Yogapraxis nicht mehr wegzudenken.

Auch für mich war Yoga bis vor etwa acht Jahren ein Buch mit sieben Siegeln. „Dafür muss man doch mindestens den Spagat können“, dachte ich – „und richtiger Sport ist das auch nicht, da gehe ich lieber ins Pilates oder eine Runde joggen“. Ein Kurs, in den ich eher zufällig im Unisport hineinstolperte, änderte das schlagartig. Da stand eine ältere Frau mit schneeweissem Haar und humorvollem, verschmitzten Lächeln vor etwa dreissig jungen StudentInnen und schaffte es tatsächlich, alle zu beeindrucken. Sie strahlte eine Ruhe aus, die alle im Raum deutlich spürten und war gleichzeitig fitter als die meisten von uns. Nach ihren (durchaus anstrengenden – von wegen kein Sport!) Stunden fühlte ich mich balanciert, zentriert und geerdet. Heute weiss ich: genau so möchte ich mich auch auf dem Pferd fühlen: Ich möchte Yoga mit in den Sattel nehmen.

Atem als Verbindung von Körper und Geist

Einer der wichtigsten Stützpfeiler des Yoga ist das so genannte Pranayama, was übersetzt etwa soviel bedeutet wie „kanalisieren der Lebensenergie“. Wir können uns das so vorstellen wie einen grossen Fluss, der gemächlich und träge dahinfliesst. Mit Pranayama können wir diesen Fluss einengen und ihm eine Richtung vorgeben. Er fliesst schneller und das Wasser entfaltet deutlich mehr Kraft. Ähnlich wie das Wasser können wir auch unseren Atem und damit unsere Energie kanalisieren. Das Pferd wiederum ist sehr sensibel auf unsere Körperspannung und unsere Intention. Sind wir angespannt, wird unser Atem schneller und flacher. Ein Pferd merkt dadurch augenblicklich: „oh, da ist etwas nicht so, wie es sein sollte!“ und wird sich ebenfalls verspannen. Atemtechniken aus dem Yoga helfen, in Stresssituationen durch die Kontrolle des Atems sowohl sich selbst wie auch das Pferd zu beruhigen, zu erden und wieder zu fokussieren.

Durch gezielte Übungen und Übungsabfolgen, die Asanas, lernen wir unsere Körper neu kennen. Egal ob blutiger Anfänger oder fortgeschrittener Yogi, es gibt immer wieder etwas zu entdecken. Das moderne Yoga verbindet die jahrhundertealten Traditionen und Erkenntnisse mit dem heutigen Wissensstand und konzentriert sich stark auf die korrekte Ausrichtung des Körpers in den jeweiligen Übungen, um diese sicher ausführen zu können und Verletzungen zu vermeiden. Im Fluss mit dem Atem nehmen wir Verspannungen, zum Beispiel in Hüften oder Schultern, gezielt wahr und können diese nach und nach lösen. Aber im Yoga geht es nicht nur um Dehnungsübungen. Die Muskulatur wird gestärkt, die Kraftausdauer verbessert sich und es fällt uns mit der Zeit leichter, in einer guten und gesunden Haltung zu sitzen, zu stehen – und zu reiten!

Sommerkurs zum Thema Yoga und Reitkunst

Für mich ist Yoga die ideale Ergänzung zum Reiten. Auch deswegen habe ich mich entschieden, meine Kenntnisse und meine Praxis mit einem 200H Yoga Teacher Training noch zu vertiefen. Ich hoffe, ich konnte auch dich inspirieren, etwas für Körper und Geist zu tun! Zusammen mit der lieben Vanessa von Wege zur Reitkunst plane ich in diesem Sommer einen Kurs zum Thema Yoga und Reitkunst. Informationen und die Anmeldung findest du hier.